Blindgänger

Momentan schreiben wirklich alle an Geschichten aus Dystopia.

Ich also auch.


Wie fast jeden Abend war ich auch an diesem wieder auf dem Weg von meiner Wohnung in die Stammkneipe zwei Straßen weiter. Und wie fast jedes Mal frage ich mich, aus welchem Jahrhundert der Laden wohl seinen Namen geerbt hat – mit einem traditionellen gastlichen Pub hatte „Johnny’s Pub“ immerhin wenig zu tun. Von der Vernachlässigung in den Jahren nach dem Zusammenbruch hatte sich das ganze Viertel nie wieder so richtig erhohlt, aber wenige Etablissements haben sich das so erhalten. Offiziell natürlich war das alles so gedacht – hier wird auf rustikal gemacht. Nicht dass das irgendeinen der Gäste interessieren würde, die Meisten kommen hier aus der Gegend. Nur selten verirrt sich jemand aus der City hier her.

An einer Straßenkreuzung muss ich kurz warten: die Ampeln funktionieren noch wunderbar. Ich habe also etwas Zeit und sehe mich um. Auf fast jeder Hauswand prangt ein Werbebanner, alles Mögliche ist dabei: Mode, Autos, Versicherungen, Kredite, die neuesten Taser. Natürlich hängen hier schon seit Jahren keine Plakate mehr – viel zu unprofitabel. Und so blendet nur meine VEye ihre personalisierte Botschaft direkt auf meine Netzhaut. Schon erstaunlich: der einzige Wirtschaftszweig der gut überlebt hat ist ausgerechnet die Werbebranche aus den Zeiten des Web 2.0. Scheint wie mit Kakerlaken zu sein.
Personalisiert hatte ich gesagt? Naja, so ist es gedacht. Aber nicht jeder kann sich das leisten, eine zusammenhängende Identität zu haben. Ich zum Beispiel nicht, das wäre geschäftsschädigend.

Wie bestellt meldet sich das Geschäft in Form eines leisen Klingelns in meinem linken Ohr. Mit der passenden Augengeste nehme ich den Anruf an.

Weißes Rauschen empfängt mich. Kurz fühle ich mich an die alten analogen Zeiten erinnert, bis mich die professionellen Reflexe einholen. Ich starte ein Cracker-Programm und füttere es mit dem Signal. Wenige Sekunden später meldet ein Pieps Erfolg und das Rauschen wird durch Stille ersetzt.

Ich räuspere mich.

Stille.

Dann eine Stimme: „Sie sind wirklich so gut, wie man sagt.“ Naja, Hexenwerk war das nicht gerade… aber ich unterbreche nicht und konzentriere mich auf die Stimme.

„Sie haben es offenbar geschafft, meine Verschlüsselung zu knacken. Herzlichen Glückwunsch, das war der erste Test. Darf ich dann annehmen, dass wir ungestört sind?“ Ich wusste sofort, worauf die Stimme hinaus wollte. Weniger klar war mir, wem sie gehörte – nicht hoch, nicht tief, kein auffälliges Timbre, nichts. Ich konnte nicht mal mit Sicherheit sagen, ob sie einer Frau oder einem Mann gehörte.

„Wer sind sie?“, fragte ich.
„Das tut nichts zur Sache. Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“ Typisch. „Ja, sind wir. Starke Identitätsverschleierung, Wechsel alle 2 Sekunden, Dummy-Feed dazwischen. Gut genug jedenfalls, um die Werbebanner völlig aus dem Konzept zu bringen. Das Gespräch ist vertraulich.“ Vertraulichkeit, das Motto unseres Berufsstandes. Oder auch mit einem bein im Knast, je nachdem wen man fragt.

„Wunderbar. Nennen sie mich Alice.“ Die Stimme wechselte – jetzt eindeutig eine Frau. Da dürfte vorher wohl eine Menge Audioverarbeitung drin gewesen sein, die sie jetzt nicht mehr für notwendig hielt.

„Hallo, Alice. Ich bin Bob.“ Lachen (wenn auch nervöses) am anderen Ende (ich mache mir schnell eine Notiz), dann spreche ich weiter. „Wie kann ich ihnen helfen?“
„Die Sache ist etwas kompliziert…“
„Sie glauben, ihr Mann betrügt sie?“, helfe ich aus. Man glaubt es kaum, aber Beziehungen sind immer noch der Arbeitsgarant für uns Privatermittler.

Entrüstung. „Glauben sie, dann würde ich den Aufwand hier treiben?“ Guter Punkt. „Außerdem bin ich nicht mal verheiratet!“ Oh, wie interessant. Und ich musste nicht einmal fragen! „Ich brauche Schutz.“ Wie ein alter Freund das vor Jahren mal ausgedrückt hatte: ‚mit diesen Worten wird dein Untergang beginnen‚.
„Es tut mir Leid, aber ich bin Ermittler, kein Sicherheitsdienst.“ Ich fange schon mit der Geste zum Auflegen an, da wird Alice panisch: „Nein, halt, warten sie! Ein Sicherheitsdienst ist keine Option… oder viel mehr Teil des Problems…“ Da ist er, mein Untergang. Probleme mit einem der Dienste sind nie gut. Weder für die die sie haben noch für die, die sich einmischen.

Noch bevor ich antworten kann, spricht sie weiter. So schnell, dass ich fast Probleme habe mitzukommen: „Lassen sie mich das erklären. Ich habe nichts unrechtes getan, sondern die! Wir müssen uns treffen, ich bin hier nicht unbeobachtet.“
Verdammte Moral. Jede Faser in mir will auflegen, aber mein Verstand sagt mir, dass ich sie unmöglich hängen lassen kann. Diese Frau hat wirklich Angst, das kann man nicht spielen.

In Gedanken verfluche ich mich, während ich sie Frage, ob sie das Johnny’s kennt. Sie stockt, und fragt mich ob ich das Johnny’s in „diesem Viertel“ meine. Ja, ich tue. Und schiebe nach: „Die Gegend mag zwar ungemütlich aussehen, aber hier fällt jeder sofort auf der nicht hingehört. Man wird sie viel schlechter beschatten können.“ Zögerlich stimmt sie zu, und wir verabreden uns für in einer Stunde.
Sie legt auf.

Inzwischen ist die Ampel schon wieder 2 Grünphasen weiter und ich muss schon wieder warten. Vielleicht gar nicht schlecht, so kann ich mich noch etwas sortieren bevor ich im Pub ankomme.

Ich hole mir ein Bier und suche mir einen freien Tisch mit Blick auf die Tür.

Fast exakt zur vereinbarten Zeit hucht eine Gestalt zur Tür herein und blickt sich etwas hilflos um. Wäre sie nicht so auffällig nicht von hier, hätte man sie fast übersehen können. Aber wer hier im Blazer aufläuft fällt nun mal auf.

Ich stehe grade auf und will mich bemerkbar machen, als sie auch schon in meine Richtung läuft. Sie hat sich wirklich vorbereitet – nicht viele Leute wissen, wie ich aussehe. Oder viel mehr: nicht viele Leute wissen, dass ich nicht so aussehe wie in meiner elektronischen Visitenkarte.

„Alice.“, stelle ich fest.
„Hallo, Bob.“ Sie streckt mir ihre Hand entgegen und ich ergreife sie.

Wir setzen uns, sie bestellt einen Kaffee, ich rate ihr zu einem Tee (der ist immerhin nicht ganz so schlecht) und sieht sich vorsichtig um.

„Sie sagen, hier ist man sicherer? Kann ich mir kaum vorstellen, bei den Leuten hier.“
Etwas gekränkt falle ich ihr ins Wort: „Hey, hier mag zwar nicht alles Schick sein, aber die Leute hier sind alle in Ordnung! Immerhin bin ich ja auch einer von hier!“
Es ist ihr sichtlich peinlich, und schnell entschuldigt sie sich. „Es ist nur so… was ich beobachtet habe… es gibt Leute, die nicht wollen dass jemand davon erfährt.“
Ich beruhige sie. „Keine Angst, wenn hier ein Fremder auftaucht, fällt der auf wie ein bunter Hund. So wie sie zum Beispiel.“ Nicht ganz überzeugt sieht sie sich nochmal um und fängt dann doch an zu erzählen.

Zuerst von ihrem Job bei Eye2Eye, der zweitgrößten Werbeplattform.
Dann von ihrem Problem.

Und was sie da erzählt, ist ungeheuerlich. Konzerne, die ihre Werbeslots nicht nur an Firmen vermieten, sondern unter der Hand auch „Nachrichtenoptimierung“ anbieten. Mit der gleichen Technik, die virtuelle Banner auf reale Flächen malt werden Teile von Zeitungen, Fernsehbildern oder (für einen sehr hohen Preis) sogar der Realität ersetzt. Jeder VEye-Träger sieht also etwas anderes – das ganze kann sehr spezifisch gesteuert werden, um etwa einen einzelnen Beamten umzustimmen oder zu erreichen, dass ganze Bevölkerungsschichten einen anderen Zeitungsartikel sehen als der Journalist, der sie geschrieben hat.

Ungläubig frage ich dazwischen, wie sie denn davon erfahren hat. Statt zu antworten, nimmt sie die rechte VEye aus dem Auge und hält sie mir vor die Nase. Ich erkenne sofort den violetten Schimmer der Generation 3. Wahnsinnig teuer, aber außergewöhnliche Funktionen. Unter anderem Kommunikation mit der anderen Hälfte über das Hausnetz. „Ich hatte in einem Konferenzraum eine Linse verloren und das erst gemerkt, als ich nach der Mittagspause meinen Terminkalender aufrufen wollte. Ich habe also die Suchfunktion benutzt, um mir anzeigen zu lassen was diese VEye sieht. So soll man sie ja leichter finden können. Stattdessen gesehen habe ich aber etwas ganz anderes: eine Art Konferenz der Chefs der Top 10 im Werbegeschäft und einigen Größen aus der Industrie und Politik.“ Noch nützlicher hatte sich das Lippenleseprogramm erwiesen, was zwar einige Probleme hatte, aber doch ein recht eindeutiges Ergebnis ergeben hat. Völlig automatisch hatte sie dann einen Snapshot in der Extended Memory-Funktion erstellt um das Gespräch festzuhalten.

Als sie bei diesem Teil ankommt, hat sie die Linse schon wieder im Auge und legt mir dafür einen Speicherchip in die Hand. „Das ist – „, frage ich. „Ja. Eine Kopie.“ Ich hole mein Telefon aus der Tasche und kopiere die Daten schnell auf den internen Speicher, sicher ist sicher.

„Sie müssen mir helfen! Jemand muss mich gesehen haben, als ich hinterher meine VEye aus dem Konferenzraum geholt habe. Seitdem werde ich beobachtet.“ Ich hake nach. „Von wem, können sie die Verfolger beschreiben?“ – „Nicht direkt, nur das Auto: ein dunkelgrauer Miniv-“

Ihre Augen leuchten auf und sie erstarrt.

Klatsch – vornüber in die Tasse.

Tee verteilt sich auf dem Tisch und tropft an der Seite runter. Darauf schwimmen wie kleine Schiffchen zwei schwarze Kontaktlinsen.

3 thoughts on “Blindgänger

  1. Wow, davon will ich unbedingt mehr! Erinnert mich ungemein an meine vielen Stunden die ich mit der Deus Ex-Reihe verbracht habe. Bitte schreib das weiter, echt spannende Geschichte – Suchtgefahr 🙂

  2. Cooler Anfang! Wie gehts weiter?
    Kann Akaikee in Bezug auf die Suchtgefahr nur zustimmen. 🙂

  3. Weiter? Eigentlich sollte es nicht weiter gehen 😉

    Ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung wie es weiter geht, jedenfalls ohne dass es ein Ripoff von Büchern wird die ich mal gelesen hab. Bisher ists ja Vinge’s „Rainbows End“ + Tom Clancy.

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